Irinas Geschichte
Unsere nächste schriftliche Hausaufgabe war ‘Meine Ziele im Leben’, und das sollte keine große Sache sein. Am nächsten Tag mussten wir die Texte vorlesen, einer nach dem anderen. Und wir hatten nicht den ganzen Tag Zeit dafür. In den Deutschkursen in Berlin ist die Vielfalt der Akzente so groß, dass ich oft kaum verstehen kann, worüber gesprochen wird. Außerdem gibt es immer Lärm: jemand hustet, Papier raschelt, ein Krankenwagen fährt vorbei… Glücklicherweise waren die Ziele der meisten meiner Klassenkameraden kein großes Rätsel. Nur junge Leute sind in der Gruppe. C1 ist die vorletzte Stufe der Fremdsprachenkenntnisse und wird fast nur von denjenigen benötigt, die ein Hochschulstudium anstreben. Es war also der “U30-Club” – zukünftige Bachelor- oder Masterstudenten an der Humboldt-Universität. Oder der Ludwig-Maximilians-Universität. Oder der Friedrich-Schiller-Universität. Also sind ihre Ziele leicht zu erraten. Die Prüfung bestehen. Ein Studium abschließen. Einen Job finden… Und alles ging seinen gewohnten Gang - bis die Dame hinter mir an die Reihe kam. Ohne sie würde ich den Titel des ältesten Schülers in der Klasse tragen. “Liebe Leser,” deklamierte sie mit starkem russischem Akzent. “Diese Geschichte wird in der dritten Person erzählt, weil es eine traurige Geschichte ist.” Und dann - „Irinas Geschichte“, die in den einfachsten Wörter erzählt wurde. Ohne Nebensätze und komplizierte Satzstrukturen, die ein Schüler für eine erfolgreiche schriftliche C1 Prüfung verwenden sollte. Wie Irina in Moskau lebte. Wie Irina als Kinderchoreographin und Pädagogin arbeitete. Und wie schön ihr Leben war. Und jetzt wohnt Irina in Berlin und lernt Deutsch. Den Job als Choreografin oder Pädagogin hat sie nicht mehr, und ihr schönes Leben hat sie auch nicht. Ihre Stimme zitterte. Sie hielt inne. Ich drehte mich nicht um. Man konnte hören, dass sie weinte. Alle waren still. Schließlich, nahm sich Irina zusammen und schaffte es, den Text zu Ende zu lesen. Niemand verstand, welche Ziele sie im Leben hatte. Aber als sie das Heft weglegte, applaudierte die ganze Klasse. Niemand anderem wurde applaudiert. Die Nachbarin reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher. „Alles ist gut, alles wird gut“, sagte der Lehrer. Und nach einer langen Pause richtete er seinen Blick auf den Nächsten. Der Nächste war ein junger Amerikaner mit langen, offenen Haaren und in weißer, raschelnde Kleidung. Sein Ziel ist es, Modedesigner zu werden. Er hatte schon seine eigene Marke und eine Instagram-Seite, auf der er Hoodies verkaufte. Der Lehrer wurde sofort lebhaft. „Wie viele Follower?“